Theater muss wie Fussball sein

Fußballerische Leidenschaft und künstlerisches Engagement motivierten theater strahl-Leiter Wolfgang Stüßel zu „GARUMA. Ein Leben im Sturm”. Tom Pigl sprach mit ihm über die Träume kleiner Jungen, über Holland und Brasilien, über die Gemeinsamkeit von Theater und Fußball und darüber, warum er in André Heller einen Unterstützer fand.

TP: Wie haben Sie die letzte Fußball-WM 1974 in Deutschland erlebt?

WS: Ich war damals 19 Jahre alt und absoluter Holland-Fan. Ich bin mit dem Oranje-Trikot und passendem Käppi durch das Land getrampt und habe mir alle Spiele der holländischen Nationalmannschaft bis aufs Finale in den Stadien vor Ort angesehen.

TP: Warum waren Sie nicht Deutschland-Fan? Schließlich begeisterten die Deutschen mit Beckenbauer, Netzer, Gerd Müller etc. spielerisch die ganze Welt.

WS: In meinen Augen haben eben Cruyff, Neeskens & Co den schönsten Fußball gespielt. Außerdem hat das Land für mich eine große Faszination ausgeübt. Ich war gerade dabei, mich aus den muffigen Kleinstadtverhältnissen meiner Jugend frei zu schwimmen und war fasziniert von der Offenheit und der liberalen Gesellschaft in Holland.

TP: Was war Ihr persönlicher Höhepunkt der WM 1974?

WS: Das war natürlich das Spiel Holland – Brasilien, als die Holländer im letzten Gruppenspiel Brasilien durch Tore von Cruyff und Neeskens mit 2:0 besiegten und ins Finale gegen Deutschland einzogen. Ich war total beeindruckt von der Atmosphäre im Stadion und schaute immer wieder fasziniert auf die ungefähr 2.000 Fans aus Brasilien, die zwischen 50.000 holländischen Fans unglaublich Stimmung verbreiteten. Die haben Stunden vor und nach dem Spiel getrommelt, getanzt und gesungen, was ich noch nie zuvor erlebt hatte.

TP: Das Stück „Garuma” ist angelehnt an die Biographie von Garrincha, der als kongenialer Sturmpartner von Pelé bei den Fußball-Weltmeisterschaften von 1958–66 geglänzt hatte und zwei WM Titel gewann. Ist diese Geschichte auch im Jahr 2006 noch aktuell?

WS: Wie Garrincha stammt auch Garuma aus ärmlichsten Verhältnissen. Auch wenn Fußball als Feld sozialer Gleichheit gilt, hat sich an der Grund legenden Situation nichts geändert. Noch 1998 bei der WM in Frankreich kamen alle Nationalspieler außer Leonardo aus den unteren sozialen Schichten. In der Bundesliga und anderen europäischen Ligen sind die brasilianischen Ballkünstler nicht mehr wegzudenken. Sie stehen zum einen für die Euphorisierung von Fußball als Massensport, zeigen aber auch die Brüchigkeit von Blitzkarrieren und Kehrseite des Medienrummels auf. Was die Kids sich erträumen, spiegelt nicht immer die Realität. Und eine Verletzung reicht aus, um gleich wieder in der Versenkung zu verschwinden ...

TP: Was hat Sie dazu motiviert, das Stück des bekannten holländischen Theaterautors Ad de Bont auf die Bühne zu bringen?

WS: Ich hatte das Stück vor über zehn Jahren in Berlin beim Kinder- und Jugendtheatertreffen gesehen und war fasziniert von der hohen Emotionalität der Aufführung. Irgendwann bekam ich dann das Buch „Theater muss wie Fußball sein” in die Hände. Ich begriff, wie viele Gemeinsamkeiten es zwischen beiden Bereichen gibt: Spannung, überraschende Momente, das Hochschlagen von Emotionen und die Interaktion zwischen Akteuren und Zuschauern. Als dann die Berliner Hertha mit Alvez, Marcelinho und Gilberto immer mehr Brasilianer verpflichtete, hatte sich für mich als Berliner Theaterleiter der Bogen geschlossen.

TP: Was gab die Initialzündung, das Stück gerade jetzt umzusetzen?

WS: Als ich von André Hellers Motto der FIFA WM 2006™ „Die Welt zu Gast bei Freunden” hörte, dachte ich, wow, das passt genau zu dem, was ich mit dem Stück vermitteln möchte. Das Theaterstück zeigt ganz viel von dem, was wir Deutschen von anderen Kulturen im Allgemeinen und der brasilianischen Kultur im Besonderen lernen können, insbesondere das Lächeln, die Leichtigkeit und Lebensfreude.

TP: Ihr Projekt geht in seiner Konzeption weit über den Rahmen eines Berliner Jugendtheaters hinaus. Was macht Sie so zuversichtlich, dass das Stück ein Erfolg wird?

WS: Als wir André Heller das Stück präsentierten, war er von der Projektidee sehr angetan: Ein rasantes Theater-Spiel in einer Fußballarena, in einem Hexenkessel zwischen Samba, Akrobatik und brasilianischer Lebensfreude. Aber er hatte seine Zweifel, ob wir als relativ kleines Theater ein so großes Projekt wirklich stemmen können. Ich bin dann mit meinem Kollegen Andreas Gruhn vom Theater Dortmund auf eigene Kosten nach Wien gefahren, wo wir Herrn Heller persönlich überzeugen konnten. Unsere Entschlossenheit und Leidenschaft, mit der wir das Projekt verfolgen, hat auch die letzten Zweifel schnell ausgeräumt.

TP: Warum haben Sie dem Titel „GARUMA” den Untertitel „Ein Leben im Sturm” hinzugefügt?

WS: Wir bringen damit zum einen die Affinität zum Fußball zum Ausdruck: Im Sturm werden die Tore geschossen und Tore sind es letztlich, die das Publikum begeistern. Zum anderen fanden wir die Doppeldeutigkeit sehr schön, die sehr viel über Garuma, das Stück und brasilianische Fußballspieler aussagt: Ein stürmisches Leben mit allen Höhen und Tiefen! Euphorie und Leid liegen oft ganz nah beieinander und ziehen die Menschen ganz besonders an.

TP: Die Vorlage von Ad de Bont richtet seinen Fokus besonders auf die sozialen Probleme und zum Teil fast unmenschlichen Lebensbedingungen in den Favelas. Wollen das die Menschen in Deutschland zur Einstimmung auf die FIFA WM 2006™ wirklich sehen?

WS: Für uns ist das eine Frage der Inszenierung. Das Stück bietet mit der Jubelfeier für Garuma, der Hochzeit mit der Samba-Königin und den angedeuteten Trainingssequenzen genügend Möglichkeiten, neben all den dramatischen Konflikten das positive brasilianische Lebensgefühl zu vermitteln. Die überschäumende Samba-Begeisterung und die faszinierende Fußballkunst mit Artistik, Balljonglage und den religiösen Ritualen sind zentrale Elemente der brasilianischen Kultur. Und genau das wollen wir auch auf die Bühne bringen, ein Feuerwerk an theatralischen Momenten, die jedoch genügend Raum für kritische Hinterfragungen lassen.

TP: Wie schafft es theater strahl, dem Anspruch an Authentizität gerecht zu werden? Immerhin liegt Berlin weit von Rio de Janeiro und Salvador de Bahia entfernt ...

WS: Wir arbeiten mit brasilianischen Musikern und Sambatänzerinnen zusammen und integrieren diese in unser Stück. Eine erfahrene Choreographin wird für mitreißende Tanzeinlagen sorgen. Außerdem haben wir mit Adriana Altaras als künstlerischer Leiterin eine sehr temperamentvolle Gestalterin gefunden, die nicht nur aufgrund ihrer italienisch-jugoslawischen Wurzeln, sondern u.a. auch durch ihr Studium an der New York University sehr weltoffen ist und auf Reisen durch Brasilien tiefe Einblicke in die dortige Kultur gewonnen hat.

TP: Das Stück wird nicht nur in der Arena/Berlin aufgeführt, sondern deutschlandweit in mehreren Fußball begeisterten Städten, wovon einige WM-Standorte sind. Wie sieht das Aufführungskonzept aus?

WS: Das Bühnenbild verfolgt eine dem Stadion nachempfundene Gestaltungsform, die wir mit Stadionatmosphäre füllen werden. Unser Ziel ist es, Fußballfans fürs Theater zu interessieren und Theaterfans für die Ästhetik des Fußballs zu gewinnen. Denn Fußball ist oft theatrale Inszenierung, wenn man an die kreativen Choreographien des Torjubels denkt. Auch die moderne Bildregie bei Großereignissen dramatisiert das Geschehen auf dem Feld für den Zuschauer. Wir versuchen, die vorhandenen Gemeinsamkeiten für die Anziehungskraft unseres Stückes Gewinn bringend zu nutzen.

TP: Welche Besonderheiten darf der Zuschauer noch erwarten?

WS: Wir sind hier in Berlin und an den anderen Aufführungsorten gerade dabei, mit Prominenten der örtlichen Fußballvereine Kontakt aufzunehmen und diese für eine Zusammenarbeit im Rahmen des Stücks zu begeistern. Im Idealfall gewinnen wir einen bekannten regionalen Star für die Rolle des Trainers von Garuma und Jugendliche aus den Vereinen für die Fußball-Szenen.

TP: Wer ist vor Ort an der Garuma-Produktion beteiligt und wie kam es zu den Kooperationen?

WS: Alle beteiligten Theatermacher sind genauso Fußball begeistert wie ich und haben selbst einmal Fußball gespielt. Wahrscheinlich bin ich sogar der am wenigsten Talentierte von allen (Lachen). Wir kennen uns aus früheren gemeinsamen Theaterprojekten und Kooperationen, insbesondere die Kollegen Andreas Gruhn vom Theater Dortmund, Werner Schretzmeier vom Theaterhaus Stuttgart und Renate Heitmann von der bremer shakespeare company. Als ich von meiner Idee erzählt habe, bin ich offene Türen eingerannt.

TP: Was fasziniert Sie ganz persönlich an „Garuma”? Wo liegt Ihre individuelle Motivation, das Stück auf die Bühne zu bringen?

WS: Mich fasziniert die unglaubliche Spannung, die sich aus globalem Rummel und Masseneuphorie einerseits und der Zerbrechlichkeit sozialer Gefüge und individueller Abgründe andererseits ergibt. Ich stelle mir die Frage: Wonach bemisst sich der Wert eines Menschen? Bin ich meine goldenen Fußballstiefel oder meine blanken Füße? Gleichzeitig denke ich, dass wir Deutschen von anderen Kulturen noch immer viel lernen können. Daran hat sich seit meiner Begeisterung für die holländische Lebensweise 1974 nicht allzu viel geändert. Mit „Garuma” hoffe ich, im Rahmen des Kunst- und Kulturprogramms der Bundesregierung zur FIFA Fußball-Weltmeisterschaft 2006™ einen Beitrag zum kulturellen Verständnis leisten zu können.

Text zum Ausdrucken im pdf-Format öffnen >

Interview als Word-Datei herunterladen >

<Seitenbeginn

Offizieller Beitrag des Kunst- und Kulturprogramms zur FIFA WM 2006

 

Wolfgang Stüßel | theater strahl

Wolfgang Stüßel
Leiter theater strahl berlin

Kabine